
Magischer Disney-Klassiker neu inszeniert: «Mary Poppins» unter freiem Himmel
Das Musical «Mary Poppins» wird 2024, erstmals als Open-Air-Inszenierung, auf der Thuner Seebühne aufgeführt. Die gelungene Inszenierung vereint ein durchdachtes Bühnenbild, elegante und extravagante Kostüme sowie eine aussergewöhnliche Choreografie. Ein fantastisch agierender Cast und ein grossartiges Orchester machen das Stück zu einem magischen Erlebnis für die ganze Familie.

Ensemble "Mary Poppins" mit Alexandra-Yoana Alexandrova als Mary Poppins, Meret Lötscher und Noa Hässig als Jane & Michael Bans; Foto: Iris Steger
Der Roman, auf dem der Film und das Musical basieren, wurde 1934 von der australischen Autorin P. L. Travers veröffentlicht. Das Buch enthält keine durchgehende Handlung, sondern besteht aus einer Sammlung lose verknüpfter Geschichten. Einziges verbindendes Element ist, dass Mary Poppins im ersten Kapitel ankündigt, wie lange sie bleiben wird, und diese Vorhersage im letzten Kapitel erfüllt. 1964 wurde der Walt-Disney-Film «Mary Poppins» mit Julie Andrews und Dick Van Dyke veröffentlicht, wobei die Handlung ins Jahr 1910 verlegt wurde. Travers fand die Verfilmung zu lieblich, hatte aber aufgrund ihres Vertrags mit Disney keine Möglichkeit, weitere Änderungen vorzunehmen.
2004 feierte das Musical "Mary Poppins" am Londoner West End seine Premiere. Seitdem hat es lange Spielzeiten in London, am Broadway in New York und an vielen anderen Orten erlebt. Auf der Thuner Seebühne wird das Musical erstmals als Open-Air-Inszenierung vom 10. Juli bis 24. August 2024 aufgeführt. Es kombiniert Elemente aus dem Buch und dem Film, orientiert sich jedoch stärker am Originalbuch.

Bühnenbild "Mary Poppins" in Thun; Foto: Iris Steger
Das Bühnenbild von Andrew D. Edwards wird von einem umgedrehten Regenschirm mit dem bekannten Vogelgriff dominiert. Im Hintergrund sind die typischen Schornsteine von London zu sehen, die für die Schornsteinfeger-Szene unerlässlich sind. Der Bühnenboden zeigt eine Strassenkarte von London. Auf der linken Seite befindet sich das Kinderzimmer von Jane und Michael Banks, während im Vordergrund eine Art Lesezimmer zu sehen ist. Für die Küchenszene wird eine Küche auf der rechten Seite der Bühne ausgeklappt. Auch die St. Pauls Cathedral ist als Miniaturmodell präsent. Insgesamt ist das Bühnenbild für die Thuner Seebühne gut durchdacht, auch wenn einzelne Elemente wie die Schornsteine zu viel Raum einnehmen, während andere Elemente, wie Bäume und Blumen für die Szene im Park, fehlen. Das aus den Schornsteinen Rauch aufsteigt ergibt einen schönen Effekt.

Ensemble "Mary Poppins"; Foto: Iris Steger
Farbtupfer werden durch die eingesetzten Requisiten, das passende Lichtdesign von Tim Deiling sowie die grandiosen Kostüme von Aleš Valašek gesetzt. Die Kostüme sind eine gelungene Mischung aus Extravaganz, Eleganz und Detailreichtum! Gerade bei der Szene im Park oder bei «Supercalifragilisticexpialigetisch» sind die Kostüme eine Augenweite und erwecken das Stück zum Leben. Olivia Sieber ist für das Maskenbild verantwortlich, welches sich wunderbar mit dem Kostümbild ergänzt. Das Tondesign von Thomas Strebel ist geglückt und zeigt einen technischen Kniff, wenn durch einen 3D-Sound die freigelassene Amsel von Miss Andrew übers Publikum ‘fliegt’.

Alexandra-Yoana Alexandrova als Mary Poppins und Christopher Bolam als Bert; Foto: Iris Steger
Als Mary Poppins wie aus dem Nichts bei der Familie Banks auftaucht, liegt vieles im Argen. Mit Witz, Liebe, Durchsetzungsvermögen und einer Prise Magie schafft sie es, die Familie wieder zusammenzuführen. Doch so plötzlich wie sie erscheint, verschwindet sie auch wieder. Dieser Spagat gelingt Alexandra-Yoana Alexandrova dank ihrer Bühnenpräsenz und ihrer klaren, berührenden Stimme zauberhaft leicht. Bert ist Schornsteinfeger, Maler, Straßenkünstler und Erzähler in Personalunion, der durch das Stück führt. Christopher Bolam, der die Rolle bereits in Stuttgart, Wien und Hamburg verkörpert hat, ist ein ebenbürtiger Bühnenpartner. Er begeistert sowohl gesanglich mit seinem «Chim Chim Cheree» als auch tänzerisch auf ganzer Linie.
Neben den beiden erwachsenen Hauptrollen stehen bei «Mary Poppins» auch die Kinder im Mittelpunkt. Auf den ersten Blick wirken Jane und Michael wie verzogene Gören, doch ein tieferer Blick in ihre Seelen zeigt, dass sie sich einfach eine richtige Familie wünschen. Jedes Kindermädchen ist bisher vor ihnen geflohen. Die Kinder sind mit der Meinung ihrer Eltern bezüglich der Auswahl des Kindermädchens nicht einverstanden und schreiben kurzerhand selbst einen Steckbrief. Meret Lötscher als Jane und Noa Hässig als Michael liefern bei der Vorpremiere sowohl schauspielerisch als auch gesanglich eine herausragende Leistung.

Familie Banks; Foto: Iris Steger
Letztendlich geht es darum, die Familie Banks wieder zusammenzuführen. Während George Banks in der Bank unter Druck steht, möchte Winifred Banks am liebsten wieder als Schauspielerin arbeiten. Das zunächst ungleiche Ehepaar findet auch mit Hilfe von Mary Poppins wieder zueinander. Patrick Imhof verkörpert den missmutigen Banker gekonnt und meistert den Wandel vom entfremdeten zum liebevollen Familienvater überzeugend. Johanna Zett als emanzipierte Winifred Banks berührt mit ihrer Darstellung und schafft mit ihrer Interpretation des Songs «Mrs. Banks zu sein» einen emotionalen Moment.
Das krasse Gegenteil von Mary Poppins ist das ehemalige Kindermädchen von George Banks, Miss Andrew. Statt «Mit 'nem Teelöffel Zucker» gibt es bei ihr «Krautsaft und Fischöl». Kim Reizevoort spielt die herrlich schrille und teuflisch boshafte Miss Andrew gekonnt. Jaqueline Braun überzeugt sowohl als komödiantische Haushälterin Mrs. Brill wie auch berührend als Vogelfrau. Mit geschmeidiger einfühlsamer Stimme singt sie das Lied der Vogelfrau.

Johanna Zett als Winifred Banks; Foto: Iris Steger
Zusätzliche schrullige und komödiantische Elemente bringen Kaatje Dierks als Mrs. Corry, Cecile Gschwind als Miss Lark mit ihrem Hündchen Willoughby und Leon De Graaf als Hausdiener Robertson Aye ein.
Die aussergewöhnliche und energiegeladene Choreografie, einstudiert von Kim Duddy, ist ein zentrales Element der gesamten Inszenierung von «Mary Poppins». Verschiedene Tanzstile, darunter Walzer, Ballett und Stepptanz, werden harmonisch vereint. Besonders wenn das Ensemble bei «Supercalifragilisticexpialigetisch» oder als Schornsteinfeger:innen bei «Schritt für Schritt» über die Bühne fegt, wird die Energie direkt ins Publikum übertragen.
«Mary Poppins» Open Air zu inszenieren ist mutig. Der Mut wird in Thun belohnt. In einigen Szenen weist das Stück, buchbedingt, ein paar Längen auf. Besonders die tänzerisch anspruchsvolle Szene der Schornsteinfeger ist etwas zu lang geraten, während manche Entwicklungen im Stück zu kurz kommen. So erfolgt der Übergang in der familiären Entwicklung der Familie Banks zu abrupt. Davids gestaltet die Übergängle fliessend und bedient alle Elemente, die das Stück braucht. Witz, lebensbejahende wie nachdenkliche und fantasievolle Momente. Das Zusammenspiel zwischen Regie und Choreografie ist in diesem Stück von grosser Bedeutung und wurde hervorragend umgesetzt.

Kim Reizevoort als Miss Andrew, Jacqueline Braun als Mrs. Brill und Leon De Graaf als Robertson Aye; Foto: Iris Steger
Die bekannte Originalmusik aus dem Film stammt von Robert B. Sherman und Richard M. Sherman. Die ergänzende Musik wurde von George Stiles (Musik) und Anthony Drewe (Liedtexte) komponiert. Nicht alle Songs aus dem Film wurden für das Musical übernommen. Das Orchester der Thuner Seespiele bringt die Musik unter der versierten Leitung von Iwan Wassilevski hervorragend zu Gehör. Ein Orchester bei einer Musicalproduktion zu haben, ist eine Wohltat für die Ohren und zeigt einmal mehr, wie unverzichtbar Livemusik ist.
Und wer sich fragt, ob es die berühmte Flugszene von «Mary Poppins» in Thun gibt: Ja, die Szene gibt es und sie wurde gelungen umgesetzt. Insgesamt bietet Thun eine sehenswerte Open-Air-Inszenierung des Stücks, die von einem fantastischen Cast und einem grossartigen Orchester getragen wird. Ein Disney-Klassiker für die ganze Familie vor der beeindruckenden Kulisse von Eiger, Mönch und Jungfrau. Das Publikum honorierte am Abend der Vorpremiere eine durchweg überzeugende Leistung mit Standing Ovation.