Berührende und starke Lebensgeschichte: «Wüstenblume» am Theater St. Gallen
Spielende Kinder vor einem Zelt. Eine Schamanin betritt das Zelt und plötzlich Schreie, welche die Idylle durchdringen. Gefolgt von einem wehklagenden Weinen. Tausende Mädchen erleiden heute noch das Trauma der Beschneidung, so wie es die junge Waris Dirie erleben musste.
«Wüstenblume» ist die Lebensgeschichte einer starken Frau, die als junges Mädchen dieses Martyrium erleben musste. Waris Dirie hat gekämpft, nie aufgegeben und wurde durch ihre Willenskraft zu einem der gefragtesten Models der Welt. Als UN-Botschafterin gegen weibliche Genitalverstümmelung zog Dirie mit ihrer Autobiografie «Desert Flower – Wüstenblume» in die Welt und gewann die Aufmerksamkeit, um auf das Schicksal dieser vielen Mädchen aufmerksam zu machen. Mit ihrer «Desert Flower Foundation» startete sie Hilfsprojekte und Aufklärungsarbeit. 2009 wurde das Werk verfilmt und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.
Die Musicalmacher in St. Gallen sind bekannt, dass sie sich auch an schwierige Themen wagen und dieses Stück ist wahrlich keine leichte Musicalkost. Die Art wie die Geschichte auf die Bretter des Theater St. Gallen gebracht wurde lässt das Publikum mitfiebern, mitleiden und mitfreuen. Am 22. Februar 2020 feierte das Musical «Wüstenblume» seine Uraufführung am Theater St. Gallen. Nach der Corona bedingten Zwangspause ist die Wiederaufnahme von «Wüstenblume» am 20. November 2020 im Theaterprovisorium Um!BAU geplant, da das Theater zur Zeit aufwendig renoviert wird.
Waris Dirie reist mit einem Filmteam nach Somalia, um eine Dokumentarfilm über ihre Geschichte zu drehen und um ihre Mutter wiederzusehen. Sie erzählt von ihrer Vergangenheit. Waris wächst in der Wüste Afrikas auf. Das Überleben ist ein täglicher Kampf. Mit 13 Jahren eröffnet der Vater dem jungen Mädchen, dass es verheiratet werden soll. Der wesentlich ältere zukünftige Bräutigam zahlt einen guten Preis. Verzweifelt wendet sich Waris an ihre Mutter. Mit ihrer Hilfe gelingt ihr in der Nacht die Flucht. Quer durch die Wüste schafft sie es nach Mogadischu. In den Wirren der Grossstadt findet sie ihre Schwester Aman, deren Familie sie aufnimmt. Waris arbeitet auf dem Bau – eine harte und undankbare Arbeit.
Eines Tages kommt ihr Onkel Mohammad zu Besuch, der als Botschafter in London lebt. Sie bittet ihn sie mitzunehmen. Jahrelang wird sie als Dienstmädchen benutzt und darf das Haus nicht verlassen. Sie lernt weder die Stadt noch die Sprache kennen. Als der Onkel aufgrund der Kriegswirren zurück nach Somalia zitiert wird, gelingt Waris erneut die Flucht. Als illegale Einwanderin lebt sie in den Strassen Londons und schuftet in einem Fast-Food-Restaurant. Mit der Künstlerin Marilyn findet sie eine Freundin, die sie in ihrer Wohnung aufnimmt. Marilyn ist auch die Erste, der Waris erzählt, was ihr als junges Mädchen angetan wurde.
Auf der Strasse wird sie von dem Starfotografen Terence Donaldson entdeckt. Designer und Presse lieben die junge Frau aus Afrika, die nur durch eine Scheinehe an eine Aufenthaltserlaubnis gelangt. Waris wird eines der berühmtesten und bestbezahltesten Models der Welt, jedoch lassen sie ihre Vergangenheit und ihre Erinnerungen nicht los. Eines Tages bricht sie ihr schweigen und erzählt, welche Grausamkeit ihr als junges Mädchen widerfahren ist. Seit dem widmet sich Waris Dirie als UN-Botschafterin dem Kampf gegen das grausame Ritual der weiblichen Genitalverstümmelung, welches täglich ca. 8’000 Mädchen erleiden müssen.
Die Inszenierung von Gil Mehmert, der auch für das Buch verantwortlich ist, erzählt die Geschichte von Dirie auf eine einfühlsame, berührende Weise und gibt den schicksalhaften Momenten den nötigen Raum, ohne sich dabei nur auf ein Thema aus Waris Geschichte zu konzentrieren. Die durchaus verschiedene Aspekte der Stationen ihres Lebens wollen erzählt sein und finden sowohl im Buch als auch in der Inszenierung die nötige Beachtung. So zeigt er sowohl die traditionellen Strukturen in Somalia auf, wie auch die ungeahnten Wendungen die das Leben von Dirie hat. Mehmert verknüpft die wichtigen Stationen perfekt mit diesen vermeintlichen Nebenschauplätzen in der Geschichte und arbeitet die Charaktere deutlich heraus. Trotz der über viele Strecken nachvollziehbaren und gelungene Inszenierung gibt es Szenen im Stück, die einen fragend zurücklassen, weil nicht klar ist, wie diese die Geschichte voranbringen sollen. So zum Beispiel die Albtraumsequenz kurz bevor Waris verheiratet werden soll. Die Szene an sich ist klar, allerdings wirkt diese wie ein Lückenfüller in der Erzählung. Verbesserungspotential haben der Eine oder Andere abrupte Übergang, welcher zu hastig mit dem Ende der Musik abgeschlossen wird.
Uwe Fahrenkrog-Petersen ist im Musicalbereich ein neues Gesicht, allerdings in der Musikwelt u.a. durch Songs die er für Nena geschrieben hat, eine Hausnummer. Er hat dem Musical seinen eigenen musikalischen Stempel aufgedrückt. Die Musik zu «Wüstenblume» zeichnet sich durch eine bunte Mischung aus vielen Stilen aus, die perfekt aufeinander abgestimmt sind. Die mitreissenden Musikstile aus Rock, Pop, Tango und afrikanischen Klänge sorgen für pure Abwechslung. Mal ruhig, mal eindrücklich intensiv begleiten die Melodien die Geschichte und schwungvolle Ensemblenummern wechseln sich mit einfühlsamen, starken Solonummern ab. Der Titelsong «Wüstenblume» ist einer der stärksten Songs des Stücks, den man durchaus als Ohrwurm bezeichnen kann. Die simplen gehaltenen Liedtexte von Frank Ramond bilden ein Symbiose mit der Musik und fügen sich wunderbar in die Erzählung der Geschichte ein und bringen diese schlüssig voran. Der Musikalische Leiter Christoph Bönecker dirigiert die Wüstenblume-Band mal mit Ruhe, mal mit Schwung durch die abwechslungsreichen Musikstile. Choreograph Jonathan Huor, der in St. Gallen kein Unbekannter ist, hat eine hervorragend Choreographie beigesteuert, die sich nahtlos in die Erzählung einfügt. Besonders in Erinnerung blieb die Reprise von «Wüstenblume» am Anfang des zweiten Akt.
Im Bühnenbild von Christopher Barreca ist zurückhaltendet gestaltet, was dem Stück entgegenkommt. Die seitlichen Bühnenelemente rahmen das Bühnenbild ein und sind ganz verschieden mal als Küche, Kleiderschrank oder Zimmer einsetzbar. Hinzu kommen die Videoprojektionen von Austin Switser, welche sehr gut gelungen sind und im Hintergrund ihren verdienten Raum erhalten. Details wie die Bretter in der Baustellen-Szene bilden eine gute Ergänzung zum Gesamtbild und werden auch wunderbar in die Choreographie eingebaut. Das Lichtdesign von Michael Grundner ist von A-Z durchdacht und rundet den Gesamteindruck des Bühnenbilds ab. Der in Somalia traditionelle Dirac findet sich in den wunderbaren Kostümen von Claudio Pohle genauso, wie die Mode der 90er mit einem Hauch moderne. Die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen sowie Handlungsorte sind in den Kostümen klar zu erkennen und mit liebevoll gestalteten Details ergänzt. Im Gesamteindruck wirken die afrikanischen Kostüme zu rund und lassen die durchaus vorhandene Ärmlichkeit der Bevölkerung Afrikas vermissen.
Bereits als Kleinkind erfährt Waris, was es bedeutet in einem Land geboren zu sein, wo die Tradition über das Schicksal eines kleinen Menschen entscheidet. Mit 13 soll sie schliesslich für eine Handvoll Kamele mit einem älteren Mann verheiratet werden. Plötzlich ändert sich das Leben des jungen Mädchen schlagartig und sie muss ihre geliebte Mutter zurücklassen, um sich auf eine Reise zu machen, auf welcher die Unstetigkeit und Unterdrückung unliebsame Begleiter werden. Kerry Jean zeigt die Reise dieses jungen schüchternen Mädchens bis hin zu einer starken unabhängigen Frau, die auf der UNESCO Vollversammlung die Menschen begeistert, mit einer eindrücklichen Intensität und starker Stimme. Die 13-jährige Waris wird nicht weniger überzeugend von Naomi Simmonds dargestellt.
Eine wahre Unterstützung ist Marilyn, welche die junge Frau in einem Londoner Kaufhaus aufgabelt und ihr eine Wohnmöglichkeit anbietet. Die beiden jungen Frauen freunden sich an und durch sie lernt Waris die Stadt und Sprache kennen. Dank dem vertrauten Verhältnis erzählt sie zum ersten Mal, welche Grausamkeit ihr mit der Beschneidung widerfahren ist. Sie ermutigt sie an dem Fotoshooting teilzunehmen. Dionne Wudu verkörpert die Rolle mit viel Lebendigkeit und Glaubwürdigkeit. Ihre eindringliche Soulstimme berührt.
Während Waris Lebensreise spielen diverse Figuren eine wichtige Rolle in ihrem Leben, die von verschiedenen Darstellern erzählt werden. Terja Diava gelingt in der Rolle der Mutter mit ihrer Interpretation der Nummer «Ein langer Weg» ein Gänsehautmoment. Ebenso gelingt ihr allerdings auch die Darstellung der strengen Tante Maruim in London. Cedric Lee Bradly gibt den uneinsichtigen Vater und bestimmenden Onkel, der Waris als Dienstmädchen mit nach London nimmt. Lara de Toscana glänzt als Waris Schwester Aman, welche ebenfalls von zu Hause nach Mogadischu geflohen ist. Einen ganz starken Auftritt hat Jogi Kaiser als trinkender Scheinehemann O’Sullivan mit der Ballade «Robinson Crusoe».
Mit «Wüstenblume» ist dem Theater St. Gallen erneut eine Produktion gelungen, die aufhorchen lässt und über weite Strecken gefällt. Waris Dirie, die am Premierenabend persönlich anwesend war, zeigte sich wie das Publikum begeistert. Es wäre dem Stoff und dem Stück nur zu wünschen, dass es auf weiteren Theaterbühnen zu sehen ist.