Rent in St. Gallen: Bewegende Momente und eine stimmgewaltige Cast
Rent in St. Gallen sorgt für emotionale Gänsehautmomente und zeichnet sich durch eine starke Inszenierung aus. Die durchweg stimmgewaltige Cast und die grossartige Musik von Jonathan Larson überzeugen. Standing Ovation an der Premierenvorstellung am 17. Februar 2024.
Basierend auf Puccinis Oper La Bohème erzählt Rent über das Leben von jungen Menschen in der Lower East Side im New York Anfang der 1990er-Jahre. Konfrontiert mit künstlerischem Kampf, Drogenmissbrauch, Selbstfindung und der HIV/Aids Epidemie zeigt das Stück Themen wie Liebe, Freundschaft, Verlust und Gemeinschaft. Es geht um gesellschaftliche Herausforderungen wie Rassismus, sexuelle Vielfalt, Armut, Trauer und macht auch Mut für kleine Hoffnungsschimmer im Leben.
Anfang 1996 feierte das Stück seine Premiere am Broadway. Das Rock-Musical hat unter anderem den Tony Award für das «Beste Musical» und die «Beste Originalmusik» als auch den Pulitzer-Preis für das «Beste Drama» gewonnen. Im Jahr 2005 wurde Rent von Chris Columbus verfilmt. In St. Gallen ist das Musical in deutscher Sprache nach der Übersetzung von Wolfgang Adenberg zu sehen.
Buch, Musik und Liedertexte stammen von Jonathan Larson, der im Stück viele seiner eigenen Erlebnisse einfliessen liess. Unter anderem lebte er viele Jahre als junger Künstler mit ungewisser Zukunft und am Existenzminimum in New York. Weitere autobiografische Elemente finden sich in der Geschichte wieder. Auch reale Orte wie das «Life Café» in der Nummer «La Vie Bohème» verweisen auf ein Restaurant im East Village von New York.
Da ist der Filmemacher Mark Cohen, der ebenfalls als Erzähler durch die Handlung führt, und Roger Davis, Musiker und Ex-Junkie, die zusammen mit Tom Collins in einer WG leben. Ihr Ex-Mitbewohner Benjamin «Benny» Coffin III hat in eine wohlhabende Familie eingeheiratet. Dann sind da noch die lesbische Performerin Maureen, Ex-Freundin von Mark, mit ihrer Freundin Joanne Jefferson. Angel Dumott, ein Strassenkünstler und eine Dragqueen, kommt in das Leben der Freunde, als sie Tom Collins verprügelt auf der Strasse findet. Mimi Marquez, drogenabhängig und HIV-positiv, fühlt sich zu Roger hingezogen, doch er will davon zuerst nichts wissen.
Die Handlung ist komplex, da die Geschichten der Hauptfiguren übergreifend verwoben sind. Auch die Geschwindigkeit der Erzählung ist so unterschiedlich wie Tag und Nacht. Während sich die Handlungen im ersten Akt um die Weihnachtszeit erstrecken, wird im zweiten Akt ein ganzes Jahr, von Silvester bis in die darauffolgende Weihnachtszeit, verpackt. Gerade im zweiten Akt sind die Geschichten schnell erzählt, was ein gutes Mass an Aufmerksamkeit benötigt. Regisseur Matthew Wild gelingt es, den verwobenen Handlungssträngen der Geschichte einen roten Faden zu verleihen. Die einzelnen Charaktere sind klar und treffend ausgearbeitet. Jede der Protagonist:innen bildet eine Persönlichkeit für sich und im Ensemble agieren sie harmonisch. Auch ein wenig Schweizer Lokalkolorit findet seinen Platz. In der Szenenarbeit tobt sich Wild im gesamten Bühnenbild aus, wobei die Mitte der Bühne immer im zentralen Mittelpunkt steht. Die pfiffige und energiegeladene Choreografie von Louisa Talbot macht Spass auf der gesamten Linie. Musikalisch bietet das Rock-Musical Rent durchaus noch andere Facetten von Musik. Natürlich ist die Musik vom rockigen Sound von Gitarre, Bass und Schlagzeug geprägt, und doch sind die Elemente von Tango, Pop, Rock und Musical wunderbar miteinander verbunden. Der Musikalische Leiter Christoph Bönecker, selbst am Keyboard, dirigiert die 6-köpfige Band mit viel Verve durch die wunderbaren Songs.
Das Bühnenbild von Paul Wills zeigt jeweils seitlich die typischen amerikanischen Feuerleitern und verdreckte Telefonkabinen in der Lower East Side. Mittig befindet sich die abgeranzte WG und das Treppenhaus des heruntergekommenen Gebäudekomplexes. Das Set-Up für Maureens Performance zeigt Liebe zum Detail, was sich im ganzen Bühnenbild zum Beispiel in Form der Graffitis, Rissen an den Wänden und Kochherd an der Wand widerspiegelt. Das Bühnenbild wird wunderbar durch das sorgfältig ausgewählte Lichtdesign von Tim Mitchell ergänzt. Ein besonderer Kniff sind die schwarz-weiss Videoprojektionen von Reto Müller, die unter anderem auf einem aufgespannten Bettlagen, zu sehen sind. Claudio Pohle hat dem Zeitalter der Geschichte entsprechend passende wie auch überraschende Kostüme entworfen. Die Euterjacke bei Maureens Performance ist eine verrückte Idee, die allerdings wunderbar zum Charakter passt.
Thomas Hohler verleiht seinem Charakter Mark Cohen die perfekte Mischung aus zurückhaltender Euphorie und Ernsthaftigkeit. Fast väterlich kümmert sich Mark um seinen besten Freund Roger Davis und erinnert ihn vor Verlassen der WG daran, sein AZT zu nehmen. Das Medikament AZT war zu der Zeit eines der ersten Medikamente, dass einen Ausbruch von AIDS verhindern sollte. Dominik Hees zeigt als Roger Davis eine durchweg starke Leistung. Zerrissen zwischen dem Wunsch, vor seinem Tod den Song seines Lebens zu schreiben, Liebe und Aufgabe punktet er mit einer grossartigen kraftvollen Stimme und mit einem überzeugenden Schauspiel. Naomi Simmonds berührt mit ihrer Darstellung als Mimi Marquez. Als sie erneut Drogen konsumiert, möchte man ihr zurufen «Tu es nicht». Die Duette von Hees und Simmonds wie «Ein andermal» oder «Wenn du nicht mehr da bist» erzeugen Gänsehaut.
Quasi von 0 auf 100 hat Jeannine Michèle Wacker als Maureen einen energiegeladen Auftritt. Die Performance von Maureen ist eine Demo gegen die Machenschaften von Benjamin «Benny» Coffin III. Auch wenn Maureen ihre Freundin Joanne mit ihrer toughen exzentrischen Art auf die Probe stellt, spürt man zugleich, wie verletzlich sie ist. Wacker zeigt mit ihrer Darstellung neue Facetten. Ihr Spiel ist energiegeladen und auf den Punkt gebracht, ohne überdreht zu sein. Kerry Jean spielt Joanne Jefferson, die Freundin von Maureen, grossartig. Joanne ist charakterlich das pure Gegenteil von Maureen. Sie versucht Maureen in ihre Schranken zu weisen, scheitert allerdings an der einvernehmenden Art ihrer Freundin. Mit ihren lebhaften und charaktervollen Stimmen liefern die beiden Frauen beim Duett «Lass mich oder verlass mich» eine starke Leistung ab.
Man hat fast das Gefühl, dass Angel die Einzige ist, die mit sich und ihrem Schicksal an Aids zu sterben im Reinen ist. Sie hat ihr Schicksal angenommen und macht aus ihrem restlichen Leben das Beste. Sie findet den verletzten Tom auf der Strasse und bringt ihn in die WG. Der Philosophieprofessor findet in Angel eine Verbündete, als sie herausfinden, dass sie beide HIV-positiv sind. Aus Freundschaft wird Liebe. Gonzalo Campos López zeigt als Angel eine grossartige Leistung und begeistert durch sein nuanciertes Schauspiel und eine wohlklingende Stimme. Ebenfalls stark agiert Daniel Dodd-Ellis als Tom Collins. Berührend ist die Szene als Angel stirbt und Tom mit seinen Freunden um sie trauert. Bei dem bewegenden Duett «Mit Liebe bedeck ich dich» besticht Dodd-Ellis mit seinem warmen Bariton.
Benjamin «Benny» Coffin III gibt sich zuerst grosszügig, und lässt seine Freunde kostenlos in dem heruntergekommenen Wohnblock wohnen. Als er dann das grosse Geschäft wittert, fordert er schliesslich doch die geschuldete Miete ein. Rechtzeitig wird ihm bewusst, dass er seinen Freunden eine wirkliche Stütze sein kann. Rollengerecht arrogant agiert Vikrant Subramanian als Benny und punktet mit seinem starken Rock-Tenor. «Season of Love» ist am Anfang des zweiten Akts ein absoluter Gänsehautmoment. Wie misst man ein Jahr im Leben? Gerade in der jetzigen Zeit, in der vieles hektisch und unruhig ist, erzählt uns das stimmgewaltige und insgesamt stark agierende Ensemble von Rent im Theater St. Gallen auf, wieviel Möglichkeit wir haben. Eine davon ist dabei besonders wichtig – Liebe! Miss ein Jahr einfach in Liebe.