Energiegeladen und humorvoll – «Oh läck Du mir» in Zürich
Zürich in den 70er Jahren. In einem Quartier herrscht eine Art Kleinstadt-Idylle. Es gibt eine Beiz und einen Lebensmittel-Dorfladen. Die Quartierbewohner:innen bilden eine Gemeinschaft. Höchstens die Auseinandersetzungen untereinander sorgen für Gesprächsstoff. Als findige Immobilienspekulanten versuchen die Idylle zu zerstören, haben sie nicht mit dem Widerstand der Bevölkerung gerechnet. Am 24. September 2022 feierte "Oh läck Du mir" seine Uraufführung in Zürich im Theater 11.
Nach dem Tod seiner Greti ist Mario noch immer am Boden zerstört und führt den Dorfladen allein weiter. Sein Sohn Kurt hat andere Pläne und studiert Wirtschaftswissenschaft an der Uni Zürich. Er denkt nicht daran den Laden von seinem Vater zu übernehmen. Ganz anders gestaltet sich die Situation in der Beiz von Trudi, die von ihrer Tochter Angela tatkräftig unterstützt wird. Für Angela ist klar, dass sie die Beiz ihrer Mutter einst übernimmt und sie kann die hochtrabenden Pläne von Kurt nicht verstehen. Seit beide zusammen in den Kindergarten «Kindsgi» gegangen sind, hat sich Kurt verändert. Angela wünscht sich den alten lustigen Kurt zurück. Für Unterhaltung im Quartier sorgt die Erzkonservative Frau Häfeli, die mit den modernen Ansichten ihres Sohnes Jimmy ihre liebe Mühe hat.
Als das Immobilienspekulanten Pärchen Franca und Heinrich auftauchen ist die Not gross. Die beiden wollen das Haus mit dem Dorfladen und der Beiz dem Erdboden gleich machen, um neue moderne Hochhaussiedlungen zu bauen. Damit sind die Existenzen von Mario und Trudi in Gefahr. Trudi hat derweil ein Auge auf Mario geworfen. Dieser kapiert es nicht und meint Trudi will ihn mit Frau Häfeli verkuppeln. Angela verzweifelt derweil an Kurt. Der hingegen macht Franca Avancen, die diese jedoch sehr resolut zurückweisst. Die Frau von Welt hat schliesslich gewissen Vorstellungen, wie ein Mann auszusehen hat. Als mit der Kündigung gedroht wird, ruft der pensionierte Gymnasialprofessor kurzerhand eine Quartierversammlung ein. Daraus resultiert ein Quartierfest mit dem die Bewohner:innen der Ansicht sind, gegen die Spekulanten ein Trumpf in der Hand haben. Letztlich kommt noch der Schweizer Denkmalschutz ins Spiel. Ist der Denkmalschutz die Rettung für das Haus und lässt das Immobilienspekulanten Pärchen in die Röhre schauen?
Das Trio Eugster schuf Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre Lieder wie «Oh Läck du mir», «Mir mached es Fäscht» oder «Sitzed Si, hocked Si, nämed Si Platz» auf Schweizerdeutsch, die mit den Traditionen der Schweiz und einem einzigartigen Wortwitz spielen. Das Trio zählt zu den erfolgreichsten Bands in dieser Zeit. Der Schweizer Bevölkerung sind die Brüder aus Dübendorf ein Begriff und viele sind mit den Hits aufgewachsen.
Stellt sich die Frage, ob es möglich ist, die Songs in ein Musical zu verpacken? Ja, und wie. Charles Lewinsky hat mit Unterstützung von Markus Schönholzer eine unterhaltsame Geschichte und Liedtexte geschrieben. Von den ursprünglichen Eugster-Songs wurden ausschliesslich die Refrains und die Musik beibehalten. Inhaltlich wurden die Texte auf das Musical angepasst, so dass die Lieder sich gut in die Handlung integrieren. Den Kultsongs tut die Anpassung allerdings keinen Abbruch. Die generationenübergreifende Geschichte ist gespickt mit Humor, eine grossen Prise Ironie, Gefühl und typischen Gepflogenheiten der Schweiz zu dieser Zeit.
Regie führt der in Zürich geborene Stefan Huber. Ihm gelingt es die Handlung kurzweilig zu gestalten und den einzelnen Charakteren den nötigen Spielraum ihrer Rolle einzuräumen. Die Inszenierung bewegt sich an manchen Stellen nah am Rand zu Kitsch und Klischee, allerdings nie darüber hinaus. Dieser Balanceakt ist Huber hervorragend gelungen. Der Einstieg in die Geschichte aus der Sicht des alten Jimmy ist ein gelungener Kniff. Huber verknüpft die Geschichte der Generationen gekonnt, ohne dass der rote Faden in der Erzählung verloren geht.
Die Choreografie von Danny Costello strotz vor Energie und Einfallsreichtum. Eindrücklich sind vor allem die Choreografien des gesamten Ensembles, welches über die Bühne fegt. Dabei bedient sich Costello unterschiedlichen Stilen wie Charleston, Tango, Folklore-Tanz und Cancan. Kai Tietje (Musikalische Leitung & Arrangement) hat wohlklingende Arrangements geschaffen. Schmissig und mit Drive bringt das Orchester die Eugster Songs unter der Leitung von Christoph Wohlleben (Musikalische Leitung) zu Gehör.
Ein absoluter Hingucker ist das Bühnenbild von Okarina Peter und Timo Dentler. In dem vielfältigen Haus ist sowohl der Lebensmittelladen als auch die Beiz untergebracht. Öffnet sich das Gebäude bietet das Innenleben manche Überraschung und ist mit Liebe zum Detail ausgestattet. Auch an kleine typische Schweizer Gegenstände wie das Würzmittel Aromat oder OMO-Waschmittel im Dorfladen wurde gedacht. Das Lichtdesign von Pia Virolanen und Sven Selvik ergänzen und verstärken die Wirkung des Bühnenbildes passend. Einen ausgeglichenen Sound steuert Tom Strebel bei. Das Kostümbild von Heike Seidler ist ein Hingucker und man findet sich definitiv in den 70er Jahren wieder (Maske: Miriam Krähenbühl/Sandra Schubert). Von Schlaghose, Karohemd und Faltrock mit Kniestrümpfen ist alles dabei. Die Perücken passen ebenfalls zur Spielzeit des Stücks.
Trudi rockt ihre Beiz zusammen mit ihrer Tochter Angela. Von Jass-Abenden mit dem Polizeikommandant bis hin zu Familien trifft man sich zum Plauschen und Essen. Susanne Kunz feiert als Trudi ihre Musicalpremiere. Sie punktet durch ihr überzeugendes Schauspiel, gepaart mit einer grossen Portion Spielfreude. Mit «Lappi, tuen d’Auge-n-uf» zeigt sie gesanglich einen guten Einstand. Angela ist die grosse Stütze ihrer Mutter. Gleichzeitig plagt die beiden Frauen ein Problem – die beiden Männer Mario und Kurt. Besonders in Erinnerung bleiben die Mutter-Tochter-Duette «Ganz de Bappe» und «Lago Mio». Jeannine Wacker verleiht ihrer Angela einen aufgeweckten und selbstbestimmten Charakterzug mit schöner wohlklingender Klangfarbe in der Stimme.
Den Tod seiner Greti hat Mario nie ganz verwunden, auch wenn ihm klar ist, dass er langfristig wieder Unterstützung in seinem Lebensmittelladen benötigt. In Sachen Frauen steht er gehörig auf dem Schlauch. Livio Cecini spielt sowohl die lebensfrohe als auch trauernde Seite von Mario authentisch. Die Interpretation des Songs «Ankebälleli» ist gefühlvoll. Kurt, Marios Sohn, ist schon ganz Geschäftsmann, obwohl erst Student, träumt er von der grossen Karriere und viel Geld. Bei Angela stösst er damit auf wenig Verständnis und bei seinem Vater erst recht. Als er dann noch Sympathien für Franca entwickelt, ist er bei Angela erstmal untendurch. Simon Dubach gibt den Kurt mit ein wenig Tollpatschigkeit und unverblümter Naivität. Seine Stimme gefällt.
Franca und Heinrich sind ein Immobilienspekulanten Pärchen, welches es auf das Haus, in dem Marios Laden und Trudis Beiz untergebracht sind, abgesehen haben. Dafür setzen sie alle zur Verfügung stehenden Mittel ein und versuchen die Quartierbewohner:innen einzuschüchtern. Mit einer Expertise wähnen die sich auf der sicheren Seite. Jedoch haben sie nicht mit dem Ideenreichtum der Menschen im Quartier gerechnet und am Ende steht Heinrich als «Pantoffelheld» da. Als Franca begeistert Viola Tami, die ihre Rolle herrlich fies und berechnend anlegt. Ihr zur Seite steht Diego Valsecchi als Heinrich in nichts nach. Zusammen bilden die beiden ein hinterhältiges und unterhaltsames Duo. Der Expertisen-Tango ist ein echter Hingucker und auch stimmlich vermögen beide zu glänzen.
Frau Häfeli sieht in allem eine Verschwörung gegen Gott. Sie ordnet alles ihrem zutiefst katholischen Glauben unter. Doch ist die erzkonservative Mutter tatsächlich so gläubig wie sie sich gibt? Mit den modernen Ansichten ihres Sohnes Jimmy ist sie überhaupt nicht einverstanden und kommentiert vieles mit einem abfälligen «Pah». Jimmy träumt von einer modernen Schweiz, vom Frauenwahlrecht, Bundesrätinnen, Rap, Rock und Freiheit. Ansichten, die in der Schweiz von damals undenkbar waren. Der pensionierte Gymnasialprofessor für Geschichte und Sport hält das Quartier zusammen und organisiert den Widerstand gegen die Abrisspläne. Letztlich ist es auch der Professor, der den richtigen Stein ins Spiel bringt. Patricia Hodell zeigt als Frau Häfeli eine herausragende schauspielerische und stimmlich starke Performance. Ihre gespielten Empörungen sorgen immer wieder für zahlreiche Lacher im Publikum. Tänzerisch stark und mit einer gekonnten Rap-Einlage punktet Fabian Koller als Jimmy auf ganzer Linie. Peter Zimmermann gibt den gutmütigen, dennoch durchsetzungsstarken Professor. Bei seinem «Ruhe bitte» fühlt man sich in die eigene Schulzeit zurückversetzt. Christoph Wettstein ist der Erzähler in der Rolle des alten Jimmy.
«Oh läck Du mir» ist ein kurzweiliges und unterhaltsames Musical in Schweizerdeutsch mit einem spielfreudigen Ensemble auf der Bühne. Die Zeitreise zurück ins Zürich der 70er Jahre ist gelungen. Für einen Moment vergisst man als Zuschauer:in den Alltag und fühlt sich wunderbar unterhalten. Selbst wenn man der Dialektsprache nicht mächtig ist, kann man dem Stück durchaus folgen, auch wenn man nicht jedes einzelne Wort versteht. Im Publikum wurde gelacht, gejohlt, geklatscht, mitgefiebert und am Ende gab es den verdienten Applaus. Noch bis zum 30. Oktober 2022 ist «Oh läck Du mir» im Theater 11 in Zürich zu sehen.
Fotogalerie zu „Oh läck Du mir“ in Zürich (Theater 11), 2022