Achterbahnfahrt der Gefühle: „Miss Saigon“ im Theater 11 in Zürich
Ausschlaggebend für die Entstehung von «Miss Saigon» war ein Bild einer vietnamesischen Mutter, die ihre Tochter zusammen mit ihrem Vater, einem amerikanischen GI, in eine hoffentlich bessere Zukunft schickte. Claude Michel Schönberg (Musik) stellte eine Verbindung zu der Geschichte von «Madame Butterfly» her und siedelte «Miss Saigon» im Zeitraum vom Ende des Vietnamkriegs an. Zusammen mit Alain Boubill (Libretto) entstand die Geschichte von Kim, einer 17-jährigen Vietnamesin, die nach der Ermordung ihrer Familie, kurz vor Kriegsende, nach Saigon flüchtet.
Es sind die letzten Tage des Vietnamkriegs 1975 als Kim im Nachtclub Dreamland auf den amerikanischen GI Chris trifft. Dieser hat genug vom Krieg und will zurück nach Amerika. Um seinen Freund auf andere Gedanken zu bringen, kauft John vom Engineer, dem Betreiber des Nachtclubs, eine Nacht mit Kim. Der amerikanische GI und die junge vietnamesische Frau verlieben sich ineinander. Als sich die politische Lage in Saigon verschlimmert, verspricht Chris Kim, sie mit nach Amerika zu nehmen. Der Plan scheitert, als die amerikanischen Soldaten aus Saigon fliehen müssen.
Drei Jahre später lebt Kim in einem Armenviertel in Saigon und wird mit Hilfe des Engineers von ihrem Cousin Thuy aufgespürt, dem sie als 13-jährige versprochen wurde. Doch Kim hat ein Geheimnis. Sie hat einen Sohn, dessen Vater Chris ist. Als Thuy den kleinen Tam ermorden will, greift Kim zur Waffe und erschiesst ihren Cousin. Sie flüchtet in Begleitung des Engineers nach Bangkok. Dieser hat jedoch andere Pläne und nutzt die beiden für seinen Plan. Chris ist in Amerika inzwischen mit Ellen verheiratet und hat Mühe Vietnam zu vergessen. Sein Freund John setzt sich für die Kinder der amerikanischen Soldaten in Vietnam ein. Dadurch erfährt er, dass Chris mit Kim einen Sohn hat. John, Chris und seine Frau Ellen reisen nach Bangkok, um Kim und den Sohn von Chris, Tam, zu finden.
Nach dem erfolgreichen Musical «Les Misérables» war «Miss Saigon» das zweite Stück aus der Feder von Schönberg und Boubill und feierte 1989 in London seine Uraufführung. Im Jahr 2014 kehrte das Stück 25 Jahre später nach London zurück. Seit Juli 2017 ist die englischsprachige Version von «Miss Saigon» auf Tour und feierte am 30. November 2018 zum ersten Mal Premiere in der Schweiz. Im Theater 11 in Zürich ist das Musical bis zum 13. Januar 2019 zu sehen.
Das erfolgreiche Duo Schönberg und Boubill, schufen gemeinsam mit Richard Maltby Jr. sowie Michael Mahler eine sehr bewegende und berührende Geschichte. Basierend auf dem Original „Miss Saigon“-Bühnenbild von Adrian Vauxs, lässt die Torproduktion nichts zu wünschen übrig. Totie Driver und Matt Kinley haben an alle Details gedacht. Während sich in Saigon die verwinkelte Hinterhof-Atmosphäre mit der Dreamland Szenerie abwechselt, dominieren in Bangkok die in Neonlicht getauchten Strassen. Die Shownummer «The American Dream», interpretiert vom Engineer, ist genauso stark umgesetzt wie die wohl bekannteste Szene des Stücks – der Hubschrauber, welcher die amerikanischen Soldaten aus der Botschaft fliegt. Das hervorragende Lichtdesign von Bruno Poet unterstreicht das gelungene Bühnenbild.
Die Kostüme von Andreane Neofitou sind optisch überzeugend und fügen sich passend in der Geschichte ein. Regisseur Laurence Connor hat die bewegende Buchvorlage genutzt und die Handlung mit der entsprechenden Portion Dramatik berührend umgesetzt. Die Charaktere sind klar gezeichnet. Besonders stark sind die Ensemble Szenen gelungen, dies auch durch die wunderbare Choreographie von Bob Avian & Geoffrey Garratt. Die wenigen langatmigen Szenen, wie im Nachtclub Dreamland und Moulin Rouge, stören dabei kaum, da diese die Handlung trotzdem voranbringen. Matthew J Loughran dirigiert sein 15-köpfiges Orchester mit Drive durch die grossartigen Melodien von Schönberg, die William David Brohn wunderbar arrangiert hat.
Hilflos irrt Kim durch die Strassen von Saigon, als sie auf den Engineer trifft. Leichtgläubig folgt sie ihm, da er ihr ein Dach über dem Kopf verspricht und landet im Nachtclub Dreamland. Sooha Kim besticht als Kim durch ihr authentisches Schauspiel. Anfänglich gibt sie naive junge Frau, die sich während des Stücks zur Löwenmutter mausert, die mit allen Mitteln und gegen sämtliche Widrigkeiten für ihr Kind kämpft. Gesanglich vermag sie mit ihrem klaren und wohlklingenden Sopran zu überzeugen.
An ihrer Seite ist Ashley Gilmour als Chris. Mit Kim findet Chris in Saigon den Halt, der ihm durch die schwere Zeit des Kriegs hilft. Als die letzten US-Soldaten aus Saigon fliehen müssen, gelingt es ihm nicht, Kim die Ausreise zu ermöglichen. Geplagt von Alpträumen, versucht er in den USA ein normales Leben zu führen, bis er von seinem Sohn erfährt. Diese innere Zerrissenheit spielt Gilmour überzeugend und punktet mit seiner kraftvollen Tenorstimme. Mit Sooha Kim bildet er eine harmonische Kombination und das Schauspiel, um die Liebesbeziehung von Kim und Chris, ist glaubhaft und berührend. Unterstützt wird dies durch die wunderbaren Balladen „Sun and Moon“ und „The Last Night of the World“. Ellen versucht Chris eine gute Ehefrau zu sein, spürt allerdings auch, dass da etwas ist, über das er nicht reden möchte. Erst als Chris ihr von seinem Sohn erzählt, erfährt sie von seiner Vergangenheit in Vietnam. Elana Martin bleibt buchbedingt nur eine Nebenrolle. Durch ihr starkes Schauspiel und ihre Stimmefarbe kann sie ihrer Rolle einen eigenen Stempel aufdrücken.
Nachdem der Vietkong in Ho Chi Minh City (früher Saigon) die Macht übernommen hat, verfolgt der Engineer nur ein Ziel – seinen American Dream in den USA mit allen Mitteln zu erreichen. Dafür sind Kim und ihr Sohn Tam Mittel zum Zweck. Leo Tavarro Valdez interpretiert diesen schmierigen und doch irgendwie charmanten Charakter fabelhaft. Sein Schaupiel ist auf den Punkt und die Pointen wirken zu keiner Zeit aufgesetzt.
Als 13-jährige wurden Kim und Thuy einander versprochen. Vom einfachen Bauern, der Kim in Saigon sucht, arbeitet sich Thuy in den Reihen des Regimes zum Unteroffizier hoch. Als er Tam versucht zu töten, muss er diese Unnachgiebigkeit mit dem Leben bezahlen. Gerald Santos punktet mit seiner Interpretation sowohl mit seinem Schauspiel als auch stimmlich. Einen starken Auftritt hat Santos während «Kim’s Nightmare».
Seine Berufung nach dem Krieg findet Chris Freund John in der Unterstützung der vietnamesischen Kinder, deren Väter amerikanische GI’s sind, die sogenannten Bui Doi. Ryan O’Gorman besticht mit seiner ausdruckstarken Stimme und seinem gefühlvollen Spiel. So ist der Song «Bui Doi», zusammen mit dem Männer Ensemble, ein Gänsehaut Moment zu Beginn des zweiten Akts.
«Miss Saigon» ist eine wahre Achterbahnfahrt der Gefühle. Eine hervorragend aufspielende Cast erzählt eine Geschichte von Liebe, Leid und Verzweiflung, welche mit humorvollen Momenten gespickt ist.