«Les Misérables» in St. Gallen – Eine emotionale Achterbahnfahrt
Minutenlange Standing Ovation und begeisterte Pfiffe des Publikums im Theater St. Gallen in der besuchten Vorstellung am 30. Dezember 2023. «Les Misérables» in St. Gallen besticht durch eine exzellent aufspielende Cast, eine gelungene Inszenierung und ein grossartiges Orchester.
Bereits bevor sich der Vorgang hebt, fällt der Blick auf eine Aussage von Voltaire «Jeder Fanatismus endet in Fatalismus». Eine Aussage zum Nachdenken und gerade in der heutigen Zeit wahrer denn je. Liebe, Rache, Vergebung, Hoffnung, Verlust und Trauer - all diese Gefühle vereint das Musical «Les Misérables». Der erste Unterschied zum Original ist der klare Fokus auf den menschlichen Schicksalen in der Erzählung und der zweite Unterschied ist das grossartige Orchester des Theater St. Gallen. Bereits im Prolog wird klar, wie wichtig ein gut besetztes Orchester für Musicals im Format von «Les Misérables» sind.
Am 9. Dezember 2023 feierte die neue Inszenierung am Theater St. Gallen Premiere. Durch die Koproduktion mit dem Staatstheater am Gärtnerplatz in München, ist die Inszenierung im Frühjahr 2024 dort ebenfalls zu sehen.
Der Diebstahl eines Brotes und etliche Fluchtversuche, haben Jean Valjean 19 Jahren Haft im Straflager von Javert eingebracht. Javert, aufgewachsen im Gefängnis, hat sein ganz eigenes Bild von Recht und Ordnung. Nach all den Jahren wird Valjean auf Bewährung entlassen und wird als ehemaliger Häftling wie Abschaum behandelt. Durch die Barmherzigkeit von Bischof von Digne erhält Valjean die Chance auf einen Neuanfang. Als Bürgermeister und Fabrikbesitzer Monsieur Madeleine baut er sich ein neues Leben, doch immer wieder kreuzen sich die Wege von Valjean und Javert.
Fantine, eine Fabrikarbeiterin wird durch ihre uneheliche Tochter geächtet und aus Valjeans Fabrik geworfen. Um den Unterhalt für ihre Tochter bei den Thénardiers aufzubringen, verdingt sie sich in der Gosse von Paris als Prostituierte. Nach dem Streit mit einem Freier wird sie von Inspektor Javert verhaftet. Auf Drängen von Valjean wird die schwerkranke Fantine in ein Krankenhaus gebracht. Valjean verspricht Fantine am Sterbebett, dass er sich um ihre Tochter Cosette kümmert. Cosette schuftet in der heruntergekommenen Kneipe der Thénardiers, während deren eigene Tochter Éponine wie eine Prinzessin behandelt wird. Valjean kauft das Mädchen frei.
Einige Jahre später haben sich Valjean und Cosette in Paris ein ruhiges Leben aufgebaut. Bei einer zufälligen Begegnung verlieben sich der junge Student Marius und Cosette ineinander. Éponine, inzwischen erwachsen, und auf den Strassen von Paris zu Hause, ist heimlich in Marius verliebt und erzählt ihm, dass Cosette im Haus Rue Plumet wohnt. Valjean, der den Liebesbrief von Marius an Cosette entgegennimmt, macht er sich auf den Weg zu den Barrikaden des Juniaufstands 1832, um Marius zu beschützen. Es kommt zum letzten schicksalhaften Aufeinandertreffen von Valjean und Javert.
Die neue Produktion von «Les Misérables» am Theater St. Gallen weicht inhaltlich kaum von der bekannten Fassung ab. Allerdings inszeniert Josef E. Köpplinger das Stück in St. Gallen intensiver, vor allem in der Ausarbeitung der Protagonisten und deren Schicksalen wird mehr Aufmerksamkeit zu Teil, was dem Stück eine andere Sichtweise verleiht. Die ursprünglich Schwere des Stücks wirkt dadurch weniger drückend, und doch bleibt die Emotionalität im Stück spürbar. Die Übergänge zwischen den langen Zeiträumen sind gut gelöst, wie zum Beispiel von der jungen zu der älteren Cosette durch einem Treppenauf- und abgang. Die Choreografie von Ricarda Regina Ludigkeit lehnt sich an die Originalchoreografie an, die für die Erzählung der Geschichte wichtig ist. Das Orchester, unter der Leitung von Stéphane Fromageot (Musikalische Leitung: Koen Schoots), ist schlicht fantastisch und treibt die durchweg starken Melodien, angesiedelt zwischen Pop und Oper, von «Les Misérables» mit Elan voran. Den zusätzlichen Applaus am Ende hat das Orchester mehr als verdient. Auch der Chor des Theater St. Gallen muss erwähnt werden. Gerade in den Ensemble Szenen ergänzt der Chor das Musical mit seiner stimmstarken Präsenz zusätzlich. Beeindruckend ist die Symbiose aus Choreografie, Orchester und Chor am Ende vom 1. Akt bei dem Song «Morgen schon». Das ist Gänsehaut pur.
Das Bühnenbild von Rainer Sinell wirkt im ersten Moment leer und wenig eindrücklich. Das ändert sich schnell im Laufe des Stücks durch die Ergänzung vieler Details und die ein- und ausfahrbaren Bühnenbauten. Die durchdachte Verwendung der Drehbühne und eines auf- und absenkenden Vorhangs, der den Erzählverlauf nicht im Geringsten stört, ermöglichen teils rasche Szenenwechsel. Die Detailverliebtheit einzelner Bühnenelemente ist ausgeprägt wie zum Beispiel in der Küche der Thénardiers und beim Aufbau der Barrikaden. Durch den schwarzen Hintergrund im Bühnenbild entstehen eindrückliche Momente, die durch das durchdachte Lichtdesign von Andreas Enzler hervorragend zur Geltung kommen. Auch der Ton von Marko Siegmeier und Nicolai Gütter ist gelungen. Das Kostüm- und Maskenbild von Uta Meenen schliesst sich an die detaillierte Genauigkeit an und spiegelt die Zeit, in der die Geschichte spielt, wider. Schön zu erkennen ist der Unterschied in den Kostümen zwischen der Unter- und Oberschicht in der Bevölkerung.
Die Inszenierung von «Les Misérables» in St. Gallen ist mit einem spielfreudigen starken Ensemble besetzt. Armin Kahl zeigt als ewig gejagter Ex-Sträfling 24601 Jean Valjean eine herausragende Leistung. Er spielt seine Figur mal liebevoll, mal verzweifelt und zeigt die ganze Bandbreite der Zerrissenheit, die Valjean sein lebenlang begleitet. Seine Stimme dosiert er richtig – mal gefühlvoll leise und mal kraftvoll energisch. Sein «Bring ihn heim» ist schlicht phänomenal intoniert. Inspektor Javert klammert sich krampfhaft an die Vorstellung immer richtig zu handeln. Am Ende zerbricht er an der wichtigsten menschlichen Handlung, der Vergebung. Filippo Strocchi spielt die ganze Breite von Javerts Charakterzügen aus. Stets begleitet sein Spiel der Hauch eines Übermenschen und eine gewisse Arroganz. So wirkten die Charakterzüge Javerts noch intensiver. Bei jedem Aufeinandertreffen von Valjean und Javert ist die gegenseitige Abneigung und Brutalität greifbar. Auch wenn der Freitod von Javert nicht so eindrücklich umgesetzt ist wie in anderen Inszenierungen, bleibt für einem Moment ein Gefühl der nachdenklichen Schwere in der Luft, auch durch seine gesanglich gefühlvolle Interpretation des Songs «Sterne».
Wietske van Tongeren gibt eine starke und zugleich zerbrechliche Fantine, die auf berührende und aufopferungsvolle Weise alles für das Wohlergehen ihre Tochter Cosette tut. In dem Song «Ich hab geträumt vor langer Zeit» träumt Fantine von einem besseren Leben. Van Tongeren interpretiert den Song mit sehr viel Hingabe und Gefühl.
Éponine, die heimlich in Marius verliebt ist, realisiert, dass sein Herz Cosette gehört. Dennoch macht sie alles, um Marius glücklich zu sehen. Ihre besondere Verbindung zeigt sich, als Éponine auf den Barrikaden stirbt und es Marius vor Schmerz förmlich zerreisst. Durch die fein herausgearbeiteten Charaktereigenschaften ist die Verbindung der beiden zum ersten Mal richtig greifbar. Barbara Obermeier berührt als Éponine mit ihrer Interpretation von «Nur für mich». Matteo Ivan Rašíć als Marius hat einen wohlklingenden klassischen Tenor. Das gefühlvolle Duett «Der Regen» von Obermeier und Rašíć, als Éponine mit dem Tod kämpft, erzeugt eine bedrückende Stimmung im Theatersaal, und das Publikum ringt um Fassung. Fantastisch gespielt und gesungen! Julia Sturzlbaum setzt mit ihrem klaren Sopran Akzente und spielt die Entwicklung von Cosette überzeugend und mit der nötigen Unbeschwertheit. Sturzlbaum und Rašíć bilden ein ebenso harmonisches Gespann. Als überzeugter Anführer der Studenten im Widerstand zeigt Merlin Fargel als Enjolras eine schauspielerisch und stimmlich hervorragende Leistung. Sein «Lied des Volkes» ist auf den Punkt stark gesungen.
Als raffgieriges und listiges Ehepaar Thénardier agieren Carin Filipčíč und Jogi Kaiser. Das Timing ihrer Komik ist perfekt und mit «Herr im Haus» und «Bettler ans Buffet» haben sie unterhaltsame Songs im Stück, welche die Stimmung etwas auflockern. Tragisch ist dennoch auch ihre Geschichte, denn sie verlieren während den Barrikadenkämpfen beide Kinder. Einen Extra-Applaus verdienen sich Josefine Rösch als junge Cosette, Ella Töpfer als junge Éponine und allen voran Kio Bruderer als Thénardiers Sohn Gavroche.