Berührend: „Anna Göldi – Das Musical“
Geschichte macht unser Leben lebendig und lässt der Fantasie freien Lauf. So ist es nicht verwunderlich, dass geschichtliche Themen immer wieder einen Platz im Film oder Theater bekommen. Die aus dem Rheintal stammende Anna Göldi wurde im Jahre 1782 als eine der letzten Frauen der Hexerei beschuldigt und hingerichtet. Der Gerichtsprozess sorgte in der Schweiz und in Deutschland für Aufsehen. Erstmalig wurde im Zusammenhang mit dem Prozess der Begriff Justizmord geprägt, denn das Gericht in Glarus, welches Anna Göldi zum Tode durch das Schwert verurteilt hatte, war nicht zuständig. Im Jahre 2008, 235 Jahre nach ihrer Hinrichtung, wurde Anna Göldi rehabilitiert.
Direkt oberhalb des Rheinfalls in Neuhausen befindet sich das SIG Areal. Am 7. September 2017 feierte das Musical „Anna Göldi“ in der alten Industriehalle seine Uraufführung und ist dort bis zum 22. Oktober 2017 zu erleben.
Regisseur und Autor Mirco Vogelsang erzählt die Geschichte von Anna Göldi aus zwei verschiedenen Zeitebenen. Zum einen aus der Sicht von Anna und zum anderen aus der Sicht des deutschen Journalisten Heinrich Ludewig Lehmann, der engagiert wurde, um die Ehre des in Verruf geratenen Kanton Glarus zu retten. Diese Herangehensweise verleiht dem Stück wenig dramaturgische Tiefe, sondern eher eine gelungene faktenbasierte und erzählerische Aufarbeitung der Geschehnisse. Vogelsang gelingt es die Handlung und Zeitsprünge nachvollziehbar zu gestalten, allerdings sind einzelne wichtige Charaktere nicht deutlich genug herausgearbeitet. Die grosse Bühne bietet allerhand Raum und so kommt die gelungene Choreographie von Ursula Lysser vor allem in den starken Ensembleszenen zur Geltung. Wunderbar umgesetzt war die Albtraumszene von „Miggeli“ oder die Hexenjagd.
Moritz Schneider (Komposition) und Robert D. C. Emery (Komposition, Arrangement und Orchestrierung) steuern berührende und mitreissende Songs und Melodien bei, allerdings ohne einen wirklichen Ohrwurm zu hinterlassen. Der Musikalische Leiter Francis Goodhand, der mit seiner Band seitlich der Bühne untergebracht ist, dirigiert seine Musiker sicher durch das fast durchkomponierte Stück. Unglücklich ist das Sounddesign von Serge Gräfe. Während die gesprochenen Szenen einigermassen verständlich waren, wurden die Darsteller beim Singen vom Sound des Orchesters übertönt, so dass die Liedtexte im Publikum kaum zu verstehen waren.
Die grosse Bühne, die sich über die ganze Breite der Halle erstreckt, hat Jana Denhoven (Bühnenbild) geschickt genutzt. Vordergründig sind weisse Wände dimensional versetzt. Einerseits dienen diese als Projektionsfläche und andererseits ist die Behausung der Tschudis und des Steinmüllers im Bühnenbild integriert. Dadurch lassen sich die Bühnenteile, ohne störenden Umbau, für die jeweiligen Szenen einsetzen. Die Requisiten sind einfach gehalten, so liegt der Fokus klar auf den Darstellern, als auf einem üppigen Bühnenbild. Unterstützend kommt das Videodesign von Valerij Lisac zum Einsatz, welches die verschiedenen Handlungsorte dynamisch ineinander verschmelzen lässt. Das Lichtdesign von Pia Virolainen fügte sich nahtlos in das Bühnenbild ein und unterstrich einzelne Szenen zusätzlich. Das Kostümbild von Kai Rudat an die Epoche Ende des 18. Jahrhunderts angelegt, allerdings kommen die gewählten Farben, Stoffe und asymmetrischen Schnitte eher modern daher. Das Maskenbild von Johannita Mutter gefällt durch die zurückhaltende Art.
Anna Göldi ist für die damalige Zeit eine gebildete Frau, die Lesen und Schreiben kann. Endlich hat sie eine gut bezahlte Arbeit als Dienstmagd im Haus des Herrn Dr. Tschudi gefunden. Sie ist glücklich und hat ein gutes Verhältnis mit „Miggeli“, der Tochter des Hauses. Bis zu jenem verhängnisvollen Tag, an dem „Miggeli“ angeblich von ihr verhext wird und Nägel spuckt. Berührend, mit klangschöner Stimme und ausdrucksstarkem Schauspiel gelingt Masha Karell als Anna Göldi eine überzeugende Darstellung der Titelrolle. In Glarus triff Anna Göldi auf ihre grosse Liebe Dr. Melchior Zwicky, mit dem sie ein gemeinsames Kind hat, welches sie allerdings nach Strassburg weggeben musste. Nachdem sie im Hause Tschudi entlassen wurde, verbringen die beiden eine unbeschwerte Zeit auf dem Bauernhof von Annas Schwester. Geplagt von seinem Gewissen, ob er die Hinrichtung nicht hätte verhindern können hadert Zwicky mit sich, als er auf den Journalisten Lehmann trifft. Paul Erkamp verleiht seiner Darstellung die nötige Tiefe und punktet mit starker Stimme. Ein berührender Moment ist das Duett „Weisst du noch“ von Karell und Erkamp.
Dr. Johann Jakob Tschudi findet vom ersten Moment an gefallen an seiner neuen Dienstmagd Anna. Da er aus einer der reichsten und einflussreichsten Familien in Glarus stammt, kommt ihm der Vorfall mit seiner Tochter „Miggeli“ gerade recht, Anna aus dem Haus werfen zu können. Skrupellos stiftet er den Glarner Rat an, Anna Göldi wegen Hexerei und Giftmischerei zum Tode zu verurteilen, umso das Verhältnis zu ihr verschleiern zu können. Versiert im Spiel und mit klassischer Stimme gibt Simon Schnorr den Glarner Arzt, Ratsherr, Richter und Regierungsrat Dr. Tschudi. Gefangen in einer Welt, die ihr mehr Leid als Freund bringt, gibt sich Elsbeth Tschudi immer souverän. Zumindest nach aussen. Getrieben von Eiversucht und Verlustangst ist sie eine zutiefst verunsicherte Frau, die letzten Endes doch mehr mit Anna Göldi gemein hat, als man zuerst vermutet. Durch ihr nuanciertes Schauspiel gelingt es Eveline Suter die Zerrissenheit von Elsbeth Tschudi berührend hervorzuheben. Ihre charaktervolle und wohlklingende Stimme gefällt. Als „Miggeli“ stand am Premierenabend Lena Pallmann auf der Bühne, die toll gesungen und gespielt hat.
Die Obrigkeit in Glarus hat nach der Hinrichtung von Anna Göldi ein Problem, denn der Begriff Justizmord schwebt wie ein Damokles’ Schwert über dem Glarner Rat. Der deutsche Journalist Heinrich Ludewig Lehmann soll den Ruf mit seiner Berichterstattung wieder reinwaschen. Doch er deckt auf, was lieber verborgen bleiben soll und wird selbst zum Gejagten. Unterstützt wird Lehmann von dem Gerichtschreiber Johann Melchior Kubli, der ihm fehlende Informationen besorgt und anschliessend zur Flucht verhilft. Raphaël Tschudi und Roland Herrmann zeigen eine gelungene Interpretation ihrer Rollen. Schade ist, dass die Wichtigkeit ihrer Arbeit, nämlich die Aufklärung der hinterhältigen Umstände, buchbedingt nicht deutlicher hervorgehoben werden. Eine wichtige Vertrauensperson im Leben der Anna Göldi ist Rudolf Steinmüller. Bei ihm findet sie zuerst Unterschlupf, ehe sie aus Glarus fliehen muss. Als „verrückter“ Alchimist Steinmüller steht Marc „Cuco“ Dietrich auf der Bühne, der seine Rolle mit Witz und Charme spielt.
Insgesamt kann das Stück, bis auf wenige Längen, auch aufgrund eines stark agierenden Ensembles, überzeugen. Was Wahrheit ist und nicht, bleibt bis zum Schluss im Verborgenen. Dem Publikum hat die erzählerische Aufarbeitung dieser unrühmlichen Schweizer Geschichte gefallen – Standing Ovation am Premierenabend.